Ohlsdorf 2.0

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Ohlsdorf 2050:
Der erste Schnee seit 10 Jahren. Kurz vor Mitternacht besuche ich das Grab meines Vaters. Der Vollmond scheint und inmitten der Großstadt betrete ich eine Oase der Ruhe. Eine App weist mir den Weg über zugeschneite Wege (ja, ich weiß, ich könnte ausrutschen und im Dunkeln kann es gefährlich sein, aber: ich bin erwachsen!).
Ich bin froh, dass der Friedhof ab 2018 die alten Grabsteine nicht mehr geräumt hat. Dadurch blieb der historische Eindruck weitgehend erhalten, obwohl heute kaum mehr jemand einen Grabstein setzen lässt. Aus dem Kopfhörer vernehme ich die Stimmen der Toten: „Ich heiße Helmut Schümpert und wurde 1936 in Hamburg geboren, kann sein dass ich noch 2020 sterbe, ich habe Blutkrebs. Mein Leben war gut, weil ich es mit meiner Frau Gisela verbringen durfte.“ Manche sagen gar nicht, wer sie sind, sondern geben nur eine kurze Lebensweisheit zum Besten.
Nach einer Weile sage ich der App, dass ich nur noch meinen Vater hören will. Nach der kurzen Einführung höre ich ein paar Lieder, die er mochte und das Gespräch, das er noch kurz vorm Tod mit seinem Enkel aufnahm. Als ich beim Grab ankomme gucke ich auf eine mächtige Scheinzypresse, deren Äste sich unter dem Neuschnee biegen. Auf der App sehe ich ein Foto meines Vaters und erkenne, dass vor kurzem der Hannes das Grab besucht hat, einer seiner letzten Schüler, denen er in den Jahren vor seinem Tod noch Nachhilfe gab. Hannes hat einen Gruß und einen Link auf der App Hinterlassen und ich freue mich zu sehen, wie dieser Ort auch noch von anderen besucht wird, die meinem Vater gedenken. Nicht weit von der Zypresse steht eine Sommer-Magnolie; spontan entscheide ich, dass dies einmal der Platz für mich sein soll. Weil ich immer gleich mache, was ich denke, suche ich mir mit der App einen freien Urnenplatz aus und buche gleich noch etwas Platz drum herum und den Link zur App. Bezahlt wird immer noch mit PayPal wie schon vor 30 Jahren – manche Sachen sterben eben nie aus.

PS. Sollten Sie diese Geschichte als Vorschlag aufnehmen, rate ich, in erster Linie die Daten für Dritte zugänglich zu machen und eine erste simple App als Open Source Produkt zu entwickeln und innovativen Bürgern für die Weiterentwicklung zur Verfügung zu stellen.